IN TIEFE | GESELLSCHAFT & INTEGRATION
Von Mohammad Trabelsi – Sonderbeitrag
Berlin — Im bunten Mosaik deutscher Städte, wo türkische Cafés neben Currywurstständen stehen und arabische Kalligraphie sich mit Bauhaus-Schriftzügen vermischt, stellt sich eine tiefgreifende Frage: Kann die muslimische Gemeinschaft Deutschlands nicht nur integriert, sondern zu einer aktiven Schutzmauer gegen Extremismus werden – sowohl islamistischen als auch rechtsextremen?
Es ist keine rhetorische Frage. Mit über fünf Millionen Muslimen in Deutschland sind die Herausforderungen real. Das Land steht seit Jahren unter doppeltem Druck: dem Gespenst des islamistischen Radikalismus einerseits und dem Aufstieg populistischer, islamfeindlicher Rhetorik andererseits. Doch hinter Schlagzeilen und Ängsten verbirgt sich eine stille Wahrheit: Muslime in Deutschland sind nicht nur Zielscheiben oder Verdächtige – sie werden zunehmend Teil der Lösung.
Glaube als Schutzschild
Die gängige Erzählung stellt Islam und Demokratie oft als Gegensätze dar. Doch bei näherer Betrachtung zerfällt diese binäre Sichtweise. Der Islam, wie er von der Mehrheit der deutschen Muslime praktiziert wird, ruft nicht zur Abgrenzung, sondern zur Verantwortung auf.
Im Zentrum der islamischen Ethik stehen Werte, die auch jede Demokratie anerkennt: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Würde und die Unantastbarkeit des Lebens. Die Regierungsführung des Propheten Muhammad in Medina – wo Juden, Christen und Heiden Rechte im Rahmen einer pluralistischen Charta erhielten – widerspricht dem autoritären Zerrbild, das Extremisten zeichnen.
„Wir holen uns den wahren Islam zurück“, sagt Amina T., Theologiestudentin in Osnabrück. „Den Islam der Barmherzigkeit und Gemeinschaft, nicht der Spaltung.“
Diese Rückbesinnung ist entscheidend. In einer Zeit, in der radikale Stimmen versuchen, die religiöse Autorität zu monopolisieren, sind es die Muslime selbst, die diesen Ideologien die Legitimität entziehen können.
Vom Rand in die Mitte: Muslime im öffentlichen Leben
In Städten wie Köln, Frankfurt und Hamburg ist die muslimische Präsenz längst kein Randphänomen mehr. Muslime in Deutschland sind Jurist:innen, Lehrer:innen, Unternehmer:innen und Stadträt:innen – sie gestalten die Gesellschaft nicht als Fremde, sondern als gestaltende Mitbürger:innen.
Moscheen öffnen sich zunehmend – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Freitagsansprachen werden mehrsprachig gehalten, soziale Dienste ausgebaut und interreligiöse Dialogveranstaltungen ziehen vielfältige Besucher an. Initiativen wie „JUMA“ (Jung, Muslimisch, Aktiv) bilden junge Muslime zu zivilgesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten aus.
Das ist mehr als Symbolik. Wenn Muslime aktiv ihr Umfeld mitgestalten, verliert das Narrativ „Ihr gehört nicht dazu“ an Kraft. Zugehörigkeit wird nicht nur Ziel – sie wird Realität.
Weder Assimilation noch Abgrenzung
Deutschlands Weg zur multikulturellen Integration war nicht ohne Reibung, doch eine neue muslimische Generation findet ihren eigenen Weg – jenseits von vollständiger Anpassung oder Rückzug in Parallelgesellschaften.
Der Schlüssel liegt in der hybriden Identität. Junge Muslime definieren, was es bedeutet, zugleich vollständig deutsch und authentisch muslimisch zu sein. „Ich muss mich nicht entscheiden“, sagt Basel, ein syrischstämmiger Programmierer in Berlin. „Ich lese morgens den Koran und wähle nachmittags für den Bundestag.“
Der Islam in Deutschland nimmt eigene Züge an – lokal, selbstbewusst, verankert. Importierte Predigten und intransparente Führungen werden abgelöst durch eigenständige Gelehrsamkeit und integrative Gemeinschaften.
Radikalismus von innen bekämpfen
Dennoch bleibt die Gefahr der Radikalisierung. Die Anziehungskraft einfacher Weltbilder bleibt stark – besonders für Jugendliche in Identitätskrisen, sozialer Ausgrenzung oder nach traumatischen Erfahrungen. Auch hier übernehmen muslimische Gemeinden Verantwortung.
In Moscheekellern und Gemeindezentren lernen junge Muslime kritisches Denken, Medienkompetenz und islamische Ethik. Imame wechseln von der bloßen Verkündung zur dialogischen Ansprache. Ehemalige Radikale berichten offen. Von Muslimen geführte Deradikalisierungsprogramme – wie Hayat Deutschland – zeigen messbare Erfolge.
„Diese Initiativen sind glaubwürdig“, sagt Dr. Sarah El-Kadiri, Soziologin an der Humboldt-Universität. „Sie kommen aus der Gemeinschaft selbst – nicht von außen auferlegt, sondern aus dem Glauben geboren und durch Vertrauen getragen.“
Hass mit Menschlichkeit begegnen
Extremismus trägt nicht nur ein Keffiyeh. In den letzten Jahren erlebte Deutschland einen alarmierenden Anstieg islamfeindlicher Vorfälle – von Brandanschlägen auf Moscheen bis zu Hassreden durch Politiker. Muslime stehen oft zwischen Verdacht und Schweigen.
Doch anstatt sich zurückzuziehen, treten viele an die Öffentlichkeit. Muslimische Autor:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen prägen den Diskurs, widerlegen Klischees und geben ihrer Gemeinschaft ein Gesicht. Persönlichkeiten wie Lamya Kaddor und Kübra Gümüşay zeigen, was es heißt, als deutsche Muslime zu sprechen.
Neue Allianzen mit anderen marginalisierten Gruppen – jüdischen Gemeinden, Geflüchteten, queeren Deutschen – fördern eine pluralistische Gesellschaft. Muslime sind dabei nicht nur einbezogen – sie gestalten aktiv mit.
Was jetzt geschehen muss
Damit Muslime in Deutschland langfristig als Schutzwall gegen jeglichen Extremismus wirken können, braucht es strukturelle Unterstützung. Politik, Bildung und Institutionen können Folgendes tun:
In islamische Bildung investieren, die klassische Theologie mit demokratischen Werten verbindet.
Muslimische zivilgesellschaftliche Initiativen – besonders von Jugendlichen oder im interreligiösen Bereich – stärken.
Medienbilder fördern, die die Vielfalt muslimischen Lebens realistisch abbilden.
Früherkennungssysteme mit Moscheen aufbauen, um Radikalisierung zu erkennen und zu begegnen.
Muslime vor Hassverbrechen schützen und Chancengleichheit gewährleisten.
Fazit: Die stille Revolution
Die muslimische Gemeinschaft Deutschlands ist kein Problem, das es zu lösen gilt – sie ist Teil der Lösung. Ihre Zukunft liegt nicht im Überleben, sondern in der aktiven Mitgestaltung dessen, was „Deutschsein“ im 21. Jahrhundert bedeutet.
Wenn Glaube und Bürgersinn im Einklang stehen, kommt der wirksamste Kampf gegen Extremismus nicht aus der Überwachung, sondern aus der Freitagspredigt; nicht aus der Sicherheitsstrategie, sondern aus nachbarschaftlicher Solidarität; nicht aus dem Verdacht, sondern aus dem gemeinsamen Ziel.
Die Frage ist also nicht mehr, ob Muslime integriert werden können – sondern ob die Gesellschaft bereit ist, Muslime als Mitgestalter der deutschen Geschichte anzuerkennen.
Wenn ja, könnte Extremismus bald sein Publikum verlieren.